Wo ein Wille ist, ist eine Piste – Frankfurter Allgemeine Reise 7/2/2014

Wo ein Wille ist, ist eine Piste

Skifahren auf der griechischen Peloponnes fühlt sich an, als würde man einer ständigen Sinnestäuschung erliegen – es sieht aus wie Sommer, ist aber Winter.

 

Ja, es gibt Haine mit Hunderten von Oliven-, Zitronen- und Mandarinenbäumen an den Hängen rund um das kleine Dorf Kalavryta im Norden der Peloponnes, gerade so, wie man es erwartet. Bei der Hinfahrt blickt man aufs Meer und sieht das Obst am Straßenrand wachsen. Später sitzt man auf einem Dorfplatz vor dem Café unter einer mächtigen Eiche, durch deren Äste eine Sonne scheint, hell und kräftig, selbst zu dieser Jahreszeit. Dennoch spürt man zugleich eine gewisse Kühle und Frische, die von den Bergen herunter- und vom Boden heraufzieht. In der Luft liegt ein Geruch von verbranntem Holz. Und dort, wo die Tannen aufhören, beginnen der Schnee und die Skilifte. So fühlt sich Skifahren in Kalavryta an wie eine ständige Sinnestäuschung.

In Griechenland haben die Menschen für diese Tage einen Namen gefunden: „Alkyonides“ – sieht aus wie Sommer, ist aber Winter. Wer morgens beim Blick aus dem Fenster noch den Eindruck hatte, ein Pullover genügte fürs Skifahren, der wird nach der fünfzehnminütigen Fahrt hinauf in das Skigebiet auf den Berg Stiga denn auch eines Besseren belehrt. Wo Schnee liegt, ist es kalt – eigentlich unnötig, sich das ins Gedächtnis zu rufen, doch die helle Sonne, die alles in warmes Licht taucht, verleitet dazu, sich immer wieder darüber zu wundern. Dabei unterscheidet sich das Skifahren hier kaum vom Skifahren anderswo, prinzipiell gesprochen. Man inspiziert die ausgeliehenen Skier, prüft Dichte, Höhe und Beschaffenheit des Schnees, der spärlich, aber ausreichend liegt, macht ein paar Schwünge auf der Piste, hält an, atmet tief ein und saugt die Aussicht auf die Bucht und die sich dahinter erhebenden schneebedeckten Berge des Parnass ein. Dann schickt man eine SMS nach Hause, in der man mit genau dieser Aussicht prahlt, und ärgert sich keine fünf Minuten später über sich selbst und die lächerliche Wichtigtuerei dieser Nachricht. Erst allmählich schiebt man beim Anblick der moderat bevölkerten Piste das selbstgefällige, aber wieder und wieder aufkommende Erstaunen darüber, dass die Griechen in ihrem heißen Land am Mittelmeer tatsächlich Ski fahren, durch den Gedanken beiseite, dass doch wohl jeder Ski fahren kann, der einen schneebedeckten Berg in seiner Nähe hat – also auch die Griechen in ihrem Chelmos-Gebirge. So vergeht der Tag, oder besser: So vergehen ein, zwei Stunden.

Der Lift braucht eine viertel Stunde

Denn wenn man zwischendurch nicht anhält bei der Bergabfahrt, um sich diesen schönen und nutzlosen Dingen hinzugeben, ist man in handgestoppten zwei Minuten unten, und darin unterscheidet sich Griechenland dann doch von den Skigebieten, die man sonst so kennt.

Am Fuß des Lifts, eines Zweier-Sessellifts, wie es sie vor zwanzig Jahren in den Alpen noch oft zu sehen gab, also ein Lift ohne all die Annehmlichkeiten wie beheizbaren Sitzen und verschließbaren Schutzhauben, sondern mit einer harten Bank und einem einfachen, klapprigen Bügel, am Fuß dieses Lifts also begegnet man dann jedes Mal einem freundlichen, aber bestimmt auftretenden Griechen, der beim Einsteigen helfen will. Er hilft, indem er mit leicht zu interpretierenden Handbewegungen den Verkehr zu regeln versucht, denn es gibt keine Schranken, und schnell kann es passieren, dass man auf einem Sessel Platz nimmt, den jemand anderes sich auch ausgesucht hat. Funktioniert aber alles wie am Schnürchen, nickt der Grieche zufrieden.

Der Lift braucht eine viertel Stunde für die Fahrt hinaus. In sehr gemächlichem Tempo transportiert er die Skifahrer auf 2333 Meter Höhe, schwebt über die Nordflanke des Stiga, die an diesem Vormittag noch im Schatten liegt und von der Sonne erst allmählich erobert wird. Während dieser langen langsamen Fahrt, die in so aberwitzigem Gegensatz zu der kurzen Zeit steht, in der man hinuntersaust, kommen einem wieder die schnellen, komfortablen Sessellifte in den alpenländischen Wintersportgebieten in den Sinn, die in null Komma nichts auf die Gipfel schießen, einen immer wieder aufnehmen und ausspucken, als wären die Berge nur Hügel und die vielen Höhenmeter ein mit Leichtigkeit zu überwindendes Nichts.

Delikate Gespräch im Lift

Hier in Kalavryta ist das anders. Der Lift schießt nicht, er schleppt sich nach oben, und diese Langsamkeit versetzt einen um Jahre zurück. Sie erinnert nicht nur an jene Kindertage, an denen man gefühlte Ewigkeiten mit den Liften unterwegs war, Wind und Wetter ausgeliefert, Schutz suchend in den Tiefen des Anoraks, des Schals und der Mütze, bis endlich der Gipfel am Horizont auftauchte, man sich wieder bewegen durfte und mit der Bewegung die Wärme zurückkam.

Die griechische Gemächlichkeit erinnert auch daran, dass Skifahren einmal etwas anderes war als ein rasender Massensport, bei dem sich Horden von Menschen gleichzeitig eine Piste hinunterstürzen. Skifahren ist Sport, auch in Kalavryta natürlich. Doch dort ist Skifahren vor allem eine Tätigkeit, die einem Zeit mit anderen Menschen schenkt, es ist eine Art soziales Ereignis. Wer fünfzehn Minuten nebeneinander in einem Lift sitzt und dann wieder fünfzehn Minuten und wieder und wieder, der unterhält sich eben nicht nur über die Qualität der neuen Skier oder über die des Schnees, der redet auch über Dinge, die persönlicher, vielleicht delikater, schwieriger, in jedem Fall aber interessanter sind und für die im Alltag oft Zeit und Muße fehlen.

Was einem auf diese Weise durch den Lift geschenkt wird, das wird einem allerdings auch gleich wieder durch die Pisten genommen. Es gibt, je nach Schneelage, zwei, drei Abfahrten in Kalavryta. Auf eine sind die Bewohner besonders stolz. Sie misst 3,8 Kilometer und ist die längste in ganz Griechenland. Derzeit ist sie mangels Schnee nur etwa zur Hälfte befahrbar. Doch selbst wenn man bis zum untersten Lift fahren könnte, wäre man in diesem Skigebiet, vorsichtig geschätzt, auf nur insgesamt zehn Kilometern Piste unterwegs, und auch, wenn man sich angesichts der riesigen Skigebiete, zu denen sich manche Orte in Österreich und der Schweiz zusammengeschlossen haben, natürlich schon fragte, ob irgendjemand auf der Welt 230 Pistenkilometer braucht, so muss man doch nach zwei, drei Stunden in Chelmos gestehen, dass zehn Kilometer doch sehr wenig sind. Die fehlende Abwechselung schmälert zwar nicht die Freude am Fahren. Aber sie ändert den Rhythmus des Tages. So folgt ein griechischer Skitag einem eigenen Muster.

Wir machen dasselbe wie die Troika

Er beginnt spät und endet früh. Schon gegen zwei, drei Uhr verlassen die meisten Besucher den Berg, fahren hinunter nach Kalavryta, gehen dort essen, ruhen sich aus und stehen erst gegen zwanzig Uhr wieder auf der Straße – um sich auf einen Kaffee zu treffen. Als Fremder weiß man das natürlich nicht, und so kann es passieren, dass man um halb neun in der Hovoli Bar, die mit weiß getünchten Holzwänden und Kamin aussieht wie eine gemütliche Alpenstube, als Einziger schon ein Bier bestellt. In der Taverne um die Ecke ist man eine halbe Stunde später dann wieder der Erste. Gut besucht ist dieses Restaurant erst gegen zehn, halb elf, zu einer Zeit, zu der in anderen Skigebieten längst die Bürgersteige hochgeklappt sind. All dies aber passt, so skurril es wirken mag, sehr gut zu dieser Gegend. Mensch und Natur stimmen sich in ihren Möglichkeiten aufeinander ab.

Der Eindruck von ferienfreundlicher Behaglichkeit ändert sich erst, wenn man dem Direktor der Bergbahn-Gesellschaft begegnet. Thymios Vazeos ist ein kleiner, grauhaariger Herr mit besonnener Ausstrahlung und klarer Meinung. Die bringt er zwar leise, aber sehr bestimmt zum Ausdruck, und man glaubt es ihm sofort, als er sagt, seine Angestellten wüssten schon, dass er ihnen zurzeit einiges zumute, damit aber ihre Arbeitsplätze sichere. Tatsächlich bekommen Dinge, die man zuweilen den Tag über belächelt hatte, einen sehr ernsten Hintergrund, wenn Vazeos von seinem Job erzählt.

Am Fuß der Bergbahnen, gleich hinter den Containern, in denen die Tickets verkauft und Skier verliehen werden, liegt sein Büro. Es ist ein von allem Überflüssigen befreiter Raum. Hinter dem Schreibtisch hängt als einziger Schmuck ein Schwarzweißfoto des ehemaligen Bürgermeister von Kalavryta an der Wand; er war es, der die Skistation 1988 gegründet hat. Vazeos leitet sie seit fünf Jahren. Damals war er eigentlich in Rente gegangen, nach jahrzehntelanger Arbeit bei British Petrols in Athen. „Jetzt“, sagt er, „mache ich hier dasselbe wie die Troika in Griechenland.“

Vazeos hofft auf Gelder

Die Bergbahn hatte einen Schuldenberg von 2,5 Millionen Euro angehäuft, und Vazeos war einigermaßen enttäuscht, um nicht zu sagen entsetzt, als er sah, wie hier gewirtschaftet wurde. Dabei ist die Bergbahn überlebenswichtig für die gesamte Region, die immerhin achtzehnhundert Betten bereithält und ihr Geschäft überwiegend im Winter macht. Im Sommer kommen bestenfalls nur ein paar Mountainbiker und einige Wanderer,während sich die Einheimischen der Landwirtschaft widmen. Äpfel, Nüsse und Bohnen wachsen hier, außerdem türmen sich in den Auslagen der Souvenirläden Honig und Käse. Das sieht pittoresk aus, doch es ist klar, dass die Einnahmen aus dem Verkauf dieser Produkte kein ausreichendes Einkommen sind. Es wäre deshalb verheerend, müsste die Skistation eines Tages ihren Betrieb einstellen. Und man kann verstehen, dass Thymios Vazeos die Lage pathetisch beschreibt: „Es geht ums Überleben.“

Als er kam, hat er ein Dutzend Mitarbeiter entlassen. Nur noch zwei Personen sind festangestellt und arbeiten das ganze Jahr über für ihn, die anderen haben Zeitverträge bekommen. Zudem wurden die hohen Gehälter um zehn Prozent gekürzt. Vazeos hat versucht, im Internet Werbung für sein Skiressort zu machen und mit Sonderangeboten Urlauber anzulocken. Und das Restaurant am Fuß des Berges ließ er so umbauen, dass die Gäste weniger lang anstehen müssen – und man sie mit weniger Personal bedienen kann.

Vazeos selbst ist mit seinem Büro in ein höher gelegenes Gebäude umgezogen. In dem unteren ist nun all das untergebracht, womit sich Geld verdienen lässt: Skiverleih, Kiosk, Skischule, Ticketschalter. Das waren aber auch schon die Möglichkeiten, die er hatte, um das Geschäft einigermaßen flottzumachen. Wie man die Modernisierung und den Ausbau der Anlagen finanzieren soll, für die ein kanadisches Unternehmen im vergangenen Sommer einen sogenannten Masterplan entworfen hat, ist eine offene Frage, und es vermittelt sich nicht unbedingt Zuversicht aus Vazeos Miene, während er das dicke, schwarze Buch mit dem Entwurf aufblättert.

Vazeos hofft auf Gelder aus der Region, doch die sind knapp. Bis das Skigebiet am Peloponnes das wird, was man aus anderen Ländern kennt, ein modern ausgerüsteter Ferienbetrieb mit allen Schikanen von Wellness bis zum Après-Ski, wird wohl einige Zeit vergehen. Vielleicht ist das nicht einmal das Schlechteste. Denn Gegenden, in denen Skifahren eine solch gemütliche Angelegenheit ist wie in Kalavryta, gibt es kaum noch irgendwo auf der Welt.

Source: http://goo.gl/pn8SVT